Belletristik

SumpfLand (Roman)

Klappentext

Auf einem Dresdner Flohmarkt wird ein Rentner von einem anderen erschossen. Ein Ereignis, das zum Ausgangspunkt einer Reise durch drei Generationen, drei politische Systeme und viele sich überlagernde Geschichten wird.
Der Enkel des Getöteten – Sebastian – beginnt sich durch einen Zufall Jahre später für diesen Mord zu interessieren. Dabei lernt er den Mann kennen, der seinen Großvater getötet hat, und er begreift schnell, dass diese beiden Alten etwas verbindet, was vermeintlich weit in der Vergangenheit liegt.
Sebastian versucht, dieser Geschichte und damit auch sich selbst auf den Grund zu gehen. Dabei erfährt er, dass Begebenheiten oft nicht so eindeutig sind, wie man sie gern erzählen würde. Immer öfter beginnen die lange Zeit im Dunkel liegenden Ereignisse, in Sebastians Gegenwart ihre Spuren zu hinterlassen. Und so wird bald klar: Eine Stadt ist nicht nur ein Ort, sondern auch eine Zeit. Und Geschichten können zwar totgeschwiegen werden, ihre Wirkungen haben sie aber trotzdem.

Ein aufrüttelnder Roman über Rassismus, Hass und Abscheu, die an jeder Straßenecke zu finden sind, über Erinnerungen, Wahrheiten und Geschehnisse, die manchmal nie ihr wirkliches Gesicht offenbaren – selbst im Tod nicht.

Leseprobe „Kalte Eröffnung“ aus Sumpfland


„BITTE ETWAS MEHR RUHE!“

Kapitel 1: „Its nice and quiet“

Die Auflage für den Besitz halbstaatlicher Unternehmen hieß ocker, die für die wenigen verbliebenen öffentlichen Plätze gelb. Die Konsole an der sich Frana und Kaya gegenüberstanden war zur Aufrechterhaltung notwendiger Aufmerksamkeit von mattem, die Augen nicht blendendem weiß. Unsere Historiker fanden zudem Berichte der Beobachtungskommissionen jener Zeit, in denen von ansteigenden Tötungsdelikten an „Unruhestiftern“ durch orthodoxe Stillstandsfanatiker zu lesen war. Zuerst vermutete man darin eine Radikalisierung bestimmter, isolierter, fanatischer Gruppen. Später zeigten die Forschungen in Archiven von frühen Lifecycle-Management-Systemen aber eindeutig, dass jene Gewaltexzesse nicht nur in Verbindung standen mit dem Konsens derer, die sich im allgemeinen schon ruhig verhielten, sondern vielmehr, dass sich durch diesen Konsens der Ruhe, jenes fanatische Stillstandsideal der Orthodoxen erst legitimierte. An einem Tag, nach vielen Tagen, hatte die matt weiße Konsole eine Funktionsstörung. Frana verlangsamte die routinierten Bewegungen und blickte irritiert umher, da der Grund für die Unregelmäßigkeit nicht sofort feststellbar war. So etwas kam normalerweise nicht vor. Normalerweise wurde acht Stunden produziert, dann begab man sich, froh seinen Beitrag geleistet zu haben, in die Ruhezone, um sich dort der Meditation zu widmen. Eine Fehlfunktion der Konsole erschien daher als missgünstiges Zeichen.

Frana sah auf, sah den Fehlercode und wusste, dass diese Unterbrechung der Produktion vermutlich nur mit Hilfe von speziell geschultem Servicepersonal wieder fortgesetzt werden konnte. Auf der anderen Seite der angesenkten Konsole hatte auch Kaya eine ähnliche Schlussfolgerung gezogen. Auch hier war die Unterbrechung als Zeichen wahrgenommen worden, allerdings als hoffnungsvolles. Denn, was auch immer die Gründe gewesen sein mögen, die in den langen Jahren der Gleichmütigkeit gewachsen waren, Kaya wollte nicht mehr ruhig da sitzen. Die Rotation der Welt schien aus
ihrem verzaubertem Taumel von Tag zu Tag mehr in eine Art fahles Austrudeln überzugehen, sichtbar daran, dass nirgends mehr von den Prozessen, vom Entstehen immer Neuem, vom Vergehen und von der Vielfältigkeit der Farben, der Wesen, der Ideen die Rede war. Gesprochen wurde zunehmend leise, flüsternd und dennoch mit einer schauderhaften Kälte in den Worten. Mit Worten die auf ein Ziel hinaus wollten, auf etwas
Endgültiges: Endlich sollte die weiche Masse zu einer festen grauen Form erstarren. Es sollte etwas Definitives sein, etwas, das nicht einmal als dauerhaft zu beschreiben wäre, da es nichts mehr mit Zeitlichkeit zu tun hätte.

Erschienen in: Krämer, Wolf-Dieter; Schwab, Manfred (Hrsg.): Nachdenken über NSX. Kulturmaschinen Verlag. S. 51-56.